Notiz von Hamid - September 2002
Mit 19 Jahren musste ich mein Heimatland, Iran, verlassen und nach langen Umwegen und einiger Zeit hat mich das Schicksal nach Deutschland verschlagen. Die ersten zwei Jahre meiner Zeit in Deutschland verbrachte ich als politischer Asylbewerber in einem Asylantenheim in Augsburg. Mein Aufenthalt dort war besonders schwierig: Ich wurde tagtäglich mit Fragen konfrontiert, deren Antworten mir verborgen blieben –Woher kommt die soziale Kälte, die überall zu spüren ist – könnte dies mit dem vergleichsweise kühlen Klima zu tun haben? Wieso nimmt man sich auf der Straße gegenseitig nicht wahr, sondern hat einen ernsten und starren Blick im Gesicht? Auch in den U-Bahnen versteckt sich jeder hinter seiner Zeitung und schenkt nicht mal einem kleinen Kind ein Lächeln.
Wieso steht die vorwiegend ältere Generation auf ihren Balkonen und „überwacht“ von dort mit Polizeiblick die jungen Leute?
Woher kommt das Denken „Dein Problem – Nicht mein Problem“, sprich, warum gibt es keine Bereitschaft, sich gegenseitig zu helfen?
Zwei weitere Ereignisse aus meiner Anfangszeit hier, die für mich prägend waren, sind die folgenden:
Ein Freund von mir wollte einer alten Dame, die auf der Straße hingefallen war, helfen. Die Dame rief nach Hilfe, aber erst, als mein Freund bereits ihren Arm ergriffen hatte, damit sie aufstehen kann: sie dachte, er wollte ihre Handtasche rauben.
Während meiner Studienzeit klingelte mein Nachbar an der Tür, da sein Salz ausgegangen war, und er mich danach fragen wollte. Ich rollte ein Papier trichterförmig zusammen, füllte Salz hinein und gab es ihm. Am nächsten Abend, etwa zur selben Zeit, klingelte es wieder an meiner Tür: mein Nachbar stand davor, mit einem trichterförmig zusammengerollten Papier, und wollte mir mein Salz zurückgeben. Mir fiel dazu nur die zynische Bemerkung ein, ob er denn auch die Salzkörner richtig gezählt hat.
Mir ist bewusst, dass es in allen Ländern und Kulturen positive und negative Wesenszüge gibt, und man könnte eine Vielzahl ähnlicher Geschichten vermutlich in jedem Land erleben. Da ich aber nun mal jetzt in Deutschland lebe, muss ich mich den oben stehenden Fragen auseinandersetzen.
Nach meiner Zeit in Augsburg machte ich dann mein deutsches Abitur nach, und studierte in Darmstadt. 1996, nach dem Abschluss meines Studiums, zog ich nach Berlin, in der Hoffnung, dort weltoffenere Menschen kennenzulernen und meinen Traum von der Selbständigkeit zu verwirklichen: Schon als kleiner Junge war ich fasziniert von den Erzählungen meiner Großeltern, wie über die Seidenstraße Safran, Stoffe, Datteln und Pistazien mit Kamelen nach Europa gebracht wurden. Sie erzählten mir von den rhythmischen Glockenklängen, von denen die Karawane begleitet wurde, und auch vom unvergesslichen Geschmack des Tees in der Karawanserei. Mein Wunsch war es seither, als Kaufmann durch Handel die Welt zu entdecken und verschiedene Kulturen kennenzulernen.
Dieses Bild der Karawane soll auch in meinen Filialen hier in Berlin ausgedrückt werden: bei uns bekommt jeder Besucher einen persischen Tee aus dem Samowar angeboten, und der Glockenklang der Karawane findet sich am Glöckchen der Kapuzenspitze wieder.
So kam es, dass ich mich schließlich mit meinem Unternehmen in Berlin angesiedelt habe und inzwischen privat und geschäftlich hier verwurzelt bin. Auch wenn ich noch heute manchmal auf Begebenheiten wie die Anfangs erwähnten treffe, hat mir Berlin doch gezeigt, dass Deutschland – genauso wie jedes andere Land auch – aus einer Vielzahl verschiedener Bevölkerungsgruppen und unterschiedlicher Einzelpersonen besteht, die es oft nur mit offenen Augen zu entdecken gilt.